Sucht Euren Pseudosuperstar doch bitte woanders.

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Endlich. Darauf hat Mannheim gewartet. Die inoffizielle Musikhauptstadt Deutschlands – da darf der DSDS-Casting-Truck nicht fehlen. Und endlich: morgen kommt sie in die Quadratestadt, die gummibereifte, tonnenschwere Büchse der Pandora. Doch die steht ja eh schon längst sperrangelweit offen.

Am Freitagnachmittag macht der sogenannte Casting-Truck der RTL-Endlos-Show „Deutschland sucht den Superstar“ auf dem Mannheimer Marktplatz Halt. Zwischen 14 und 20 Uhr können dort motivierte Gesangstalente ohne vorherige Anmeldung vorsingen und sich so eventuell den Weg in die deutsche Fernsehlandschaft ebnen. Die Juroren Dieter Bohlen und Heino werden allerdings nicht zugegen sein. Soweit die nüchterne Meldung, so weit die Theorie.

Das Problem: kein Mensch verhindert, dass dort auch Leute auftreten, die zwar meinen gut singen zu können, diese Meinung aber auch sehr exklusiv vertreten. Wo sind Familie und Freunde, wenn es darum geht, Schaden und Spott von geliebten Menschen abzuwenden? Man sagt ja „Liebe macht blind“ – also kann man die Familie wohl getrost vergessen als Bremsklotz überzogener Gesangsambitionen, aber es gut meinende Freunde und Bekannte sollten doch den Mund aufkriegen. Tun sie aber nicht. Und damit tritt sich ein Steinchen los, das über die letzten Jahre zu einer Lawine wurde, die die deutsche Fernsehwelt überrollt und die Jugend auf Sicht verändert haben dürfte. Denn wie die Casting- oder Real Life-Liebes-Soaps alle heißen, sie alle haben eins gemein: sie leben einen Gutteil ihrer Zeit davon, dass große Teile unserer ach so modernen und lebenswerten Gesellschaft ihren mitunter menschenverachtenden Voyeurismus darin auslebt und so, sicher ungewollt, ein erhaltenswertes Wertesystem den Bach runter gehen lässt und zu einem denkbar schlechten Vorbild für die jüngsten Generationen unserer Zeit wird.

DSDS, Bauer sucht Frau, Schwiegertochter gesucht, Bachelor, Germany’s next Topmodel – viele dieser Sendungen haben vordergründig einen unterhaltsamen und qualitativen Anspruch, denn tatsächlich kann man ab einem gewissen Punkt oft tatsächlich wirkliches Talent bewundern, doch Quote und Viralität werden vor allem mit dem bloßen zur Schau stellen von Leuten erreicht. Von Menschen, die sich wider besseren Wissens oder unwissentlich auf denkbar größter Bühne bis auf die Knochen blamieren. „Selbst schuld“ könnte man doch sagen, und die Verantwortung weiterreichen wie die Wanderhure auf Sat.1 – doch der Schaden ist weit größer als der, den die Dargestellten oft haben. Ich bin mir sicher: die zunehmende Verrohung und Sensationsgier junger Generationen ist in den Medien mitbegründet, mindestens aber nutzen sie diese bedenkliche Entwicklung und befeuern sie sogar.

Wenn heute Menschen in U-Bahnhöfen zu Tode geprügelt werden, greift von zahlreich umher stehenden Passanten keiner ein, es gibt aber mindestens 20 Videos in Full-HD von Amateurfilmern, die danach auf sozialen Medien Reichweitenrekorde aufstellen. Hänseln war sicher auch früher kein Fremdwort an Schulen – aber die heutigen Dimensionen sind kein Vergleich zu früheren Tagen – und wenn sich dann das Kollektiv dann daran ergötzt, ist es nicht mehr so weit bis zum Selbstmordgedanken. Was früher in dunklen Ecken nahezu ungesehen geschah, passiert heute direkt vor unseren Augen – und wir sharen, liken und gruppenwhatsappen die digitalen Zeugnisse in immer neue Sphären. Doch was haben die genannten TV-Formate damit zu tun?

Sie alle vermitteln, teils implizit, teils mit der Brechstange, das wohlig warme Gefühl, dass es „ok“ oder gar „normal“ ist, sich über Menschen lustig zu machen, die anders oder komisch sind, irgendetwas besonders schlecht können oder sich ungewollt bis auf die Knochen blamieren. Noch sind nicht alle Hemmschwellen gefallen, aber weit ist der Weg nicht mehr, wenn man liest, das sich Everybody’s Darling Helene Fischer über Menschen mit Behinderung amüsiert. Es ist ein gefährlicher, schwer wieder umzukehrender Trend, wenn Kinder und Jugendliche mit diesem respektlosen Einheitsbrei aufwachsen und daraus ihr Wertesystem entwickeln. So werden aus hilfsbereiten Menschen, die einst Menschen in schwierigen Situationen (unverschuldet oder nicht) halfen, sensationsgeile 1414-Bild-Leser-Reporter ohne Zivilcourage.
Kein Mensch muss sich in der Dunkelheit in eine Kugel für Fremde werfen, aber wenn man an den Vorfall vor der Polizeiwache in H4 denkt, bei dem angeblich auch mehrere Augenzeugen zugegen waren, dann fragt man sich schon, warum Hilfe heute oftmals einen so geringen Stellenwert zu haben scheint. Denn mehrere Augenzeugen müssen eigentlich mehr sein als passive Dokumentarfilmer: sie könnten Leben retten. Zumindest aber sehr oft die Würde von Menschen, die selbst manchmal außer Stande sind, in ihre Situation selbst richtig einzuschätzen.

Der Bogen vom DSDS-Laster zu Gewaltverbrechen & Sittenverfall ist sehr groß und gewiss gewagt, keine Frage. Und wir lachen alle irgendwann über lustige oder peinliche Videos anderer Menschen. Dass dieser Voyeurismus aber heute senderübergreifend „Weapon of Choice“ für beste Quoten ist und zur Primetime erfolgreicher ist als alles andere, sollte nachdenklich stimmen. Und genau deswegen ist der Tour-Stopp des DSDS-Casting-Trucks auf dem Mannheimer Marktplatz auch ohne Pop-Titan Dieter Bohlen nichts, was einer so toleranten und Musik atmenden Stadt wie Mannheim gut zu Gesicht stünde.

 

Passend zum Thema: Carolin Kebekus hat aus dieser Thematik ein Programmteil erschaffen, abb 1:30 Minute in diesem NightWash-Clip.

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